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GALERIE AUSLAGE, PÜCKLERSTRASSE 17, 10997 BERLIN
  • 02. MAI — 27. MAI 2021
Leman Sevda Darıcıoğlu
Leman Sevda Darıcıoğlu - I plant my seeds in here, Galerie Auslage 2021, Photo: Maria Kassab

I plant my seeds in here

Für ihre* Installation und Live-Performance „I plant my seeds in here“ kooperiert Leman Sevda Darıcıoğlu mit der türkischen Queer-Ikone Jilet Sebahat (Razor Sebahat), um eine kritische Würdigung der Filme „Madame X: An Absolute Ruler“ und „Ticket of No Return“ von Ulrike Ottinger zu schaffen und dabei eine inklusive und intersektionale feministische Solidarität zu erkunden.

Statement der Künstler*in

"I plant my seeds in here" beschäftigt sich mit dem Thema der Mobilisierung im Rahmen der europäischen Grenzpolitik und dem Heimat finden von Menschen, die aus dem „globalen Süden“ nach Europa ziehen.

Darıcıoğlu kritisiert die europäische Einwanderungspolitik indem sie* die Einwanderungsbedingungen von Bürger*innen aus dem sogenannten „globalen Süden“ hinterfragt. Ebenso beschäftigt sie* sich mit dem persönlichen Ballast der Migrant*innen selbst. Um den Opferkurs zu durchbrechen, nimmt die Künstler*in eine queer-feministische, punkige Haltung ein und eignet sich zunächst das Bild der vermeintlich schmutzigen Immigrant*innen an. Sie* bezieht sich auf gewisse solidarische und aufrührerische Tendenzen, in der heutigen als auch früheren Türkei, welche auch Darıcıoğlu im Gepäck mit sich trägt. Um dies zu tun, wendet sie* sich der Kanto-Musik zu.

Die Musikform des Kanto, welche westliche Instrumente mit östlichen Makams (Melodien) zusammenbringt, hat ihre Wurzeln im Istanbul der späten osmanischen Zeit und war vor allem für nicht-muslimische Frauen ein Wendepunkt. Während muslimische Frauen aus religiösen Gründen nicht auftreten und singen durften, ließen es sich die Kanto-Sängerinnen; armenische, griechische und römische Frauen, entgegen der damaligen Moral nicht nehmen, aus freien Stücken aufzutreten, zu singen, freizügige Kleidung zu tragen oder auch Liebhaber zu haben. In "I plant my seeds in here" erinnert Darıcıoğlu an eine dieser Frauen, Peruz: die erste Kanto-Sängerin, armenische Liedermacherin und Komponistin, die vielen Frauen das Singen und Auftreten beibrachte und aus dem heutigen Blickwinkel erstmals Solidarität unter diesen marginalisierten Frauen verbreitete.

Während sie* Peruz als eine der feministischen Künstlerinnen ihrer Ära heraufbeschwört, eignet sich Darıcıoğlu in einer queer-feministischen Weise deren Vermächtnis an. Repräsentiert in einer achtstündigen Live-Performance und multidisziplinären Installation, bei der auch die neueste Videoarbeit der zeitgenössische Queer-Ikone, Jilet Sebahat (Razor Sebahat) mit dem Titel "So what?" zu sehen ist.

Die Videoarbeit "So what?" der in Istanbul lebenden Queer-Performancekünstler*in, DJ und Schriftsteller*in Jilet Sebahat ist eine queere Coverversion des Songs "It's called Sex" des Komponisten für klassische türkische Musik; Arif Sami Toker. Sie stellt eine parodistische Antwort auf die Frauenbefreiung der 1970er dar.

Während dies anfangs wie eine Feier auf die Sexualität klingen mag, verwandelt sich der Text schnell in eine Verhöhnung der Frauen. Jilet Sebahat versteht das Lied als moralisierende Reaktion auf die damalige Befreiungsbewegung und antwortet durch das Umschreiben des Textes auf gegenwärtige moralisierende Positionen. So entsteht eine Flittchen-Queer-Position gegen das binäre Geschlechtersystem und die Transphobie, welches sich gegen das weltweite Heteropatriarchat richtet.

Durch die Zusammenarbeit von Darıcıoğlu und Sebahat sowie die Vereinigung des aktuellen radikalen Queer-Diskurses mit dem Geist von Peruz, generiert "I plant my seeds in here" eine vielschichtige Auseinandersetzung, die eine "gemeinsam sind wir stärker"-Haltung ausdrückt und sowohl Solidarität innerhalb des Queer-Feminismus als auch eine queere Aneignung der Geschichte manifestiert. Mit diesen Aneignungen gestaltet Darıcıoğlu ihr* eigenes Erbe neu. Sie* nimmt Samen auf und sät selbst neue.

"I plant my seeds in here" schafft ein punkiges, queeres und schrilles Immigrantenbild und kehrt die Opferwahrnehmung des diasporischen Subjekts in Bezug auf die Einwanderungsgeschichte zwischen Deutschland und der Türkei um.

*

Für "I plant my seeds in here" kleidet die Kostümbildnerin Letisya Tapan Leman Sevda Darıcıoğlu in Cult-Form ein. Danke an Ali Emir Tapan, Cult Form, Hasan Aksaygın, Performistanbul und Oliver Baurhenn für die Unterstützung.

BIOGRAPHIE

Leman Sevda Darıcıoğlu (1985, Izmir - lebt & arbeitet in Berlin und Istanbul) konzentriert sich auf die Untersuchung/Erkundung der physischen/emotionalen Grenzen und Begrenzungen des menschlichen Körpers. Ausgehend von dieser Körpererforschung setzt sich Darıcıoğlu in ihrer* künstlerischen Praxis mit hegemonialen politischen/sozialen Konzepten und Normen auseinander, die von der Performancekunst bis hin zu zeit- und raumbasierten Disziplinen wie Video, Installation und öffentlichen Interventionen reichen. Wenn sie* sich selbst als Künstler*in definieren muss, wählt sie* den Begriff Queer Artist. Ihr* Begriff von Queer bezieht sich nicht nur auf einen Bereich jenseits von Heterosexualität und binärem Geschlecht, sondern auch auf eine Position jenseits der Normativität als solcher.

Zwischen 2012 und 2019 war Darıcıoğlu Teil des Beratungsteams für eine Reihe von queer-theoretischen Schriften namens "Queer Düş'ün" [Queer Fantasy /Thought] und die Übersetzer*in mehrerer queerer Bücher im Sel Verlag. 2016 hat sie* ein queer-theoretisches Buch mit dem Titel "Queer Temaşa" [Queer Contemplation /Spectacle] herausgegeben und zusammengestellt, das ebenfalls in der Reihe erschienen ist - wiederum über den Sel Verlag (2016).

Leman Sevda Darıcıoğlus Performances und künstlerische Arbeiten wurden auf Performance-Festivals, in Museen und Galerien in der Türkei, Europa und Asien gezeigt. Darunter "unboxing: masculinities*", Universität Osnabrück, Lingen (2021); Haus der Statistik, Berlin (2020); Apartment Project, Berlin (2020); Venice International Performance Art Week, Palazzo Mora, Venedig (2020); Future Ritual, Kunstraum, London (2019); Contemporary Istanbul Art Fair (2019); Badischer Kunstverein, Karlsruhe (2019); und 18. Asia Biennale Bangladesch, Shilpakala Academy, Dhaka (2018), Jeonbuk Museum of Arts, Jeonju (2017).

In Zusammenarbeit mit GLADT E.V. und Yener Bayramoğlu ko-kuratierte Darıcıoğlu ein Online-Festival zum Thema Queer Heritage mit dem Titel "Madi Ancestors“. Auf der 26. Tüyap Istanbul Art Fair 2016, ko-kuratierte sie* mit Yekhan Pınarlıgil und Murat Alat eine Queer-Kunstausstellung mit dem Titel "Dream Pavillion“.

Von 2014 bis 2017 war sie* Mitglied des Istanbul Queer Art Collective.
Seit 2017 wird sie* von der internationalen Performancekunst-Plattform Performistanbul vertreten.

*Als Künstler*in, die mit dem binären Geschlechtersystem nicht einverstanden ist, verwendet Leman Sevda Darıcıoğlu "she/her" durchgestrichen mit Sternchen in Schriften und "they/them" in der verbalen Sprache.

Jilet (Razor) Sabahat ist eine in Istanbul lebende Performance-Künstler*in, DJ und Autor*in. Ihre Artikel und Video-Performances und Djing während der Pandemie erscheinen in Zeitschriften und Medien wie Istanbullife, Callingmag, Pembe Hayat (Pink Life), Cumaertesi (Afterfriday), Dramaqueer. Vor der Pandemie traten sie in Anahit Sahne, Mecra, dem Österreichischen Kulturzentrum (Istanbul), sowie in Ankara und Berlin auf. Sie haben eine Rolle in "The "Voice of K", dem neuesten Stück eines Radiotheater-Kollektivs (eine feministische Podcast-Serie, produziert in der Türkei).

In ihren Performances und Texten kommen Körperpolitik und Wut gegen Unterdrückung jeglicher Form mit einer queeren Haltung zum Ausdruck.